Der braune Pastor

Der braune Pastor und die Zwangsarbeiter

von Sabine Brand

Pastor Lic. Herbert Riege, seit 1928 an der evangelischen Christuskirche auf dem Moritzberg im Amt, war seit dem 1. Mai 1931 Mitglied der NSDAP. 1933 gründete er die Hildesheimer Ortsgruppe der „Deutschen Christen“, einer Glaubensbewegung, welche die Überwindung des Parlamentarismus im kirchlichen Bereich, die Schaffung einer Reichskirche nach dem Führerprinzip und das „Bekenntnis zu Blut und Rasse, zu heldischer Frömmigkeit, zu männlichem, gelebtem Christentum“1 zum Ziel hatte.

Riege blieb bis 1939 Mitglied der „Deutschen Christen“, überzeugter Nationalsozialist war er bis Kriegsende. 1945 stellte er die Christuskirche als Lager für ausgebombte ausländische Zwangsarbeiter zur Verfügung. Vom 23. März 1945 bis wenige Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner am 7. April 1945 waren 150 bis 200 Ausländer, Holländer, Italiener, Franzosen, Polen und Russen, dort untergebracht.

Es gab keine Toiletten und keinen Waschraum, keine Decken, kein Verbandsmaterial und keine Putzmittel. Man schlief auf dem nackten Kirchenfußboden, die Kirchenbänke waren draußen gestapelt. Entlang der Kirche wurde eine Rinne gegraben, die den Männern als Toilette diente. Mehreren Holländern gelang es, sich zum Schlafen mit Stroh aus einer Strohmiete zu versorgen.2

Wer von den Wächtern für arbeitsfähig gehalten wurde, musste in der Stadt Schutt räumen. Viele schwer Kranke konnten das Kirchengebäude aber nicht verlassen, „die Kranken lagen zwischen den Toten und die Toten wurden hinter den Altar weggelegt“.3 Die arbeitsfähigen Männer erhielten ihre Essensration am Einsatzort, in der Christuskirche wurde nur einmal täglich kärgliches Essen ausgegeben.

Durch Betteln und durch nächtliche Züge durch zerstörte Häuser und Keller bemühten sich die Gesunden, die Kranken in der Christuskirche ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Ein Versuch, ärztliche Hilfe zu holen, misslang: Der Arzt durfte angeblich nicht in der Kirche behandeln. Der Pfarrer der nahen Mauritiuskirche versuchte, Schwerstkranke ins Krankenhaus zu vermitteln und spendete die Sterbesakramente. Eine Anwohnerin sah eines Morgens, wie eine Schubkarre mit Leichen aus der Kirche geschoben wurde; sie war zugedeckt, „nur Beine sahen raus, die ganz blau waren“.4

Marie Eilers nahm auf ihrem Hof an der Bennostraße 1 einen der kranken jungen Holländer aus der Christuskirche auf und versorgte ihn. Zusammen mit drei Landsleuten lebte und arbeitete er bis Kriegsende bei ihr.5 Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Hildesheim wurden sechs kranke Holländer von der Christuskirche ins Bernwardskrankenhaus gebracht, fünf von ihnen starben innerhalb weniger Tage. Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Nie habe ich Menschen gesehen, die in einem erbärmlicheren Zustand waren als sie: verhungert, abgemagert bis auf die Knochen. Ihre Kleider sind grau und gleichsam beweglich durch die Läuse. Das Haupthaar ist steif von Nissen. Kein Quadratzentimeter Haut auf ihren wesenlos mageren Körpern ist frei von Wunden, verursacht durch Kratzen. Total erschöpft sind sie; nicht imstande, sich, wie denn auch, gegen das Ungeziefer zu wehren. Das Leben strömt buchstäblich aus ihnen weg.“6

Die Entnazifizierung brachte Pastor Riege nicht um sein Amt, sie kostete ihn lediglich eine 18-monatige Gehaltskürzung. 1950 trat er auf eigenen Wunsch aus Krankheitsgründen zurück. Vor seinem Ausscheiden vernichtete er sämtliche Akten des Pfarrbüros über die Nazizeit.

Quellen und Anmerkungen:

1 Arndt, Dr. Klaus: Pastor Riege und die Deutschen Christen. In: 90 Jahre Christuskirche in Hildesheim-Moritzberg 1904 – 1994, Festschrift Februar 1994

2 Brief vom 8.10.1997 von Herman Hermans, Delft, an Pastor Jürgen Drewes, Hildesheim, mit Auszügen aus Interviews holländischer Zeugen. Original: Pfarrarchiv der Christuskirchengemeide,

3 Brief vom 14.8.1994 von Herman Hermans, Delft, 2. Sekretär der „Vereniging Dwangsarbeiders Nederland Tweede Wereldoorlog“, an den Pastor der Christuskirche, Hildesheim. Original: Pfarrarchiv der Christuskirchengemeinde

4 Postkarte, anonym, vom 7.2.1995. Archiv Kultur und Geschichte vom Berge e.V., Bestand III, C 57

5 Moritz vom Berge, Stadtteilzeitung West, Hildesheim, Nr. 81, März 1998

6 Hermans, Herman: „Ab und zu denke ich noch an die Tage ...“, Erinnerungen an Deportation und Verbleib in Deutschland: Das Kriegsende in Hildesheim 1944/45. In: Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim, Bd. 67, 1995

Quelle: Sabine Brand, Der braune Pastor und die Zwangsarbeiter, in: Vom Bergdorf zum Stadtteil, Moritzberg Verlag Hildesheim 2011, S. 99 - 100.

Foto: Privatarchiv Prinz